Liebeserklärung an einen Russen

Begonnen von Doro77, Oktober 19, 2006, 17:15:37

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Doro77

Erinnerung an einen guten Freund - nur so und weil ich gerade an ihn denken musste.

Ich bin seit Ende der 70er mit einem Shiguli (Vorgänger des Ladas) aufgewachsen, eisgrau und ein Panzer von echtem Schrot und Korn. Er war Familienmitglied und hatte einen Namen. Mein Vater sammelte Zeit seines Lebens Ersatzteile, die gar nicht so einfach zu kriegen waren. Nichts kriegte man einfach so in der DDR. Er ging immer, wenn es sich ergab, mit einem ellenlangen Zettel in den "nächstgelegenen" Ersatzteilladen (der war in Dresden, 50 Kilomteter von unserer Haustür entfernt) und leierte seine Wünsche runter, einen nach dem anderen, geduldig wie ein Fels. Die Verkäuferin habe ich als stumme Blondine mit Dauerkopfschütteln in Erinnerung.

Unserem guten alten Shiguli sah man seine Jahrzehnte leider auch irgendwann mal an. Rost und Beulen überall. Trotzdem sind wir mit ihm Anfang der 90er in den ersten Westurlaub nach Bayern gefahren. Bei unserem Anblick waren die braven bayerischen Dörfler der Meinung, das mit dem Solizuschlag sei doch keine so schlechte Idee.

Kurz nach der Wende haben mein Vater und mein Bruder (gelernter Karosseriebaufacharbeiter, wie das damals hieß), den Kumpel komplett auseinandergenommen und mit den über die Jahre zusammengesammelten Ersatzteilen komplett wieder zusammengebaut. Unser alter Freund war danach nagelneu und dunkelblau gespritzt (auch Eigenarbeit). Seitdem wird auch der Solizuschlag nur noch murrend gezahlt (deshalb muss ich mittlerweile mitzahlen).

Schließlich und endlich aber kamen wir doch zu der bitteren Erkenntnis, dass wir den Kumpel entweder fahren, bis er auseinanderfällt - denn gab es in der DDR keine Ersatzteile, wo bitte sollte es sie im wiedervereinigten Deuschland geben (für einen Shiguli?!)? - oder aber, schick und neu, wie er war, noch an einen Russen verhökern. Die nämlich zogen ab, und es gab öfter ernstgemeinte Angebote. Unser alter Freund war ein Hingucker geworden.

Seit ich denken kann, saß auf der Heckablage des Kumpels ein Wildschwein aus Plüsch. Es gehörte zu diesem Auto wie Postbotenbeine in Hundeschnauzen. Nie haben sich die beiden getrennt, nicht mal, als während eines Urlaubs eine ungarische Pensionsmutter in heiße Liebe zu dem zotteligen Vieh verfiel und mein Vater es ihr - fast - geschenkt hätte. Er brachte es dann einfach nicht übers Herz. Und so fuhr unser Wildschwein weiter mit dem Kumpel durch die Gegend.

Als ich eines Tages nach Hause kam, war die Garage leer. Ganz einsam, klein und verlassen saß nur das Wildschwein auf den Brettern der Montagegrube. An diesen Anblick werde ich mich erinnern, bis ich im Grab liege.

Jeder in unserer Familie hat um den Kumpel getrauert. Das ist keine Sentimentalität, sondern die reine Wahrheit. Und jeder, der an Autos rumbaut, wird den Schmerz der Männer unserer Familie nachempfinden können. Sicher, meiner war weit kindlicher. Hatte ich doch mein Leben lang nichts anderes gekannt als dieses Auto.

Unser alter Freund war an einen geschäftstüchtigen, recht symphatischen Russen gegangen, der auch andere Wagen aufkaufte und "nach Sibirien" mitnahm, wie er sagte. Soweit ich weiß, hat er unser Prachstück sogar selber behalten. Das war uns ein Trost. Immerhin würde unser Kumpel seinen Lebensabend in seiner Heimat verbringen. Endlich mal eine ordentliche Kälte, in der man sich bewähren muss - und ein Lada lässt sich auch von 25 Grad Minus nicht beeindrucken -, endlich mal ein wodkaseliger Fahrer am Steuer und der Klang der russischen Sprache im Fond. Machen wir uns nichts vor - nur die Russen können wirklich in die Seele eines Ladas sehen.

Die Garage mit der Montagegrube gibt es nicht mehr. Das Wildschwein hat sich mit unserem "Westauto" angefreundet - den Shiguli immer im Herzen, aber bereit, eine neue Liebe einzugehen. Sicher ist unser Kumpel mittlerweile im Shigulihimmel. Aber wer weiß? Die Russen verstehen was von ihren Autos. Und vielleicht brummt er ja doch noch durch die Gegend, mit seinem warmen Motorgeräusch, der schweren Lenkung und dem Gemüt eines freundlichen Grizzlys.
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Reisen heisst, zurückkehren wollen - das Geringe schätzend zurückzukehren. (Verfasser unbekannt)