Warum ich den Winter liebe

Begonnen von Doro77, November 08, 2006, 11:52:35

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Doro77

Ich weÃ­ß - viele mögen ihn nicht. Er ist ihnen zu kalt, zu dunkel, zu lang, zu matschig, zu trübsinnig. Viele fliehen dann in den Süden, und sei es nur für ein paar Wochen. Das kann ich auch verstehen. Aber ich selbst würde das nie tun. Dafür finde ich ihn viel zu wunderbar.

Schon der Gedanke, Weihnachten an einem heißen Strand zu sitzen, ist für mich unvorstellbar. Es gibt viele Dinge, die ich am Winter liebe.

Ich mag die Dämmerung am frühen Abend, wenn ich aus dem Büro meinen Weg durch die Innenstadt nehme. Die Luft ist kalt, und mein Atem kondensiert schon vor meiner Nase. Die Schaufenster sind hell und warm erleuchtet. Die Weihnachtsdekoration kommt leider viel zu früh - aber so ab Ende November, wenn es auf den 1. Advent zugeht, genieße ich sie sehr. Es macht mir eine Riesenfreude, durch die Geschäfte zu stöbern, Bastelkram einzukaufen und mir Gedanken zu machen, wem welches Geschenk wohl gut gefallen würde. Es gibt da bei mir selten Eile oder Stress. Ich nehme mir viel Zeit dafür. Und oft reicht es mir auch, die vielen schönen Dinge einfach nur anzusehen. Die warmen Winterfarben rot und grün, die Kerzen, das Edle und das Kitschige. Aus der kalten Luft in einen warmen Laden einzutreten. Und später wieder hinaus, wo es in der Zwischenzeit noch dunkler geworden ist und die Schaufenster noch heller leuchten. Die Imbissbuden bieten Glühwein und kandierte Früchte an. Es duftet nach Zuckerwatte. Irgendwo klimpert ein Kinderkarusell vor sich hin. Der Zauber der Vorweihnacht kriecht mir ins Herz.

Ich mag die eiskalten Morgenstunden. Ich stehe überhaupt nicht gern früh und bei Dunkelheit auf. Leider lässt sich das im Winter nicht vermeiden. Aber sobald ich dann, warm vermummt, zur Tür hinaus trete, faszinieren mich der Nebel über den Baumwipfeln und das zarte Rot des Wintermorgenhimmels.

Manchmal steht ein fahler, heller Mond am Himmel. Aber die Nächte ohne Mond, das sind die, in denen man sich im Universum verlieren kann. Der Winterhimmel mit seinen Sternbildern ist umwerfend in seiner eisglitzernden Schönheit und seiner samtenen schwarzen Tiefe. Pudelmütze, Handschuhe, Stiefel und auch die unerotische lange Unterhose, eine Thermosflasche heißer Tee und ein gutes Teleskop - so kann man die Winternächte auf freiem Feld zubringen. Und später, wenn man nach Hause kommt, gibt es noch eine heiße Schokolade mit einem Schuss Kokossirup und einer Prise Chili, die man gemütlich unter einer Wolldecke trinkt.

Ich mag den Duft der Räuchermännchen und den ruhigen, hellen Glanz der Kerzen. Ich liebe die leuchtenden Schwibbbögen und Sterne in den Fenstern, das sanfte, stille Drehen einer Pyramide - eine erzgebirgische muss es natürlich sein. Die riecht nach Heimat, die ist Weihnachten.

Die Winterabende sind lang, und man hat Zeit für vieles, was im Sommer "liegenblieb". Jetzt endlich ist wieder die Zeit für den Dia-Projektor gekommen. Das leise Summen, das Klicken beim Vorschalten der Bilder, die Erinnerungen an längst vergangene Reisen, die lachenden Gesichter im Sonnenschein, am anderen Ende der Welt. Das sind wir - so jung werden wir nie wieder. Und doch möchte ich in diesem Augenblick nur hier sein, hier auf dem Sofa aneinandergekuschelt, die warmen Wollsocken an den Füßen, die Beine hochgelegt, draußen die Kälte und drinnen die Gemütlichkeit.

Es ist wieder mehr Zeit für lange Telefonate. Denn viele Freunde und auch die Familie sind weit weg. Es ist die Zeit der kleinen Geheimnisse und der süßen Düfte. Kleine Überraschungen für Nachbarn, für die Kinder von gegenüber, für einen netten Kollegen.

Es darf laut sein zwischendurch - im Trubel der Innenstadt. Aber der Winter ist auch die Zeit der Stille. Es gibt nichts geheimnisvolleres als Schnee. Manchmal ist er unangenehm nasskalt, manchmal wirbelt er einem stürmisch um die Ohren oder prickelt schmerzhaft im Gesicht. Aber manchmal sinkt er sanft und leise herab, unschuldig und ein wenig verschmitzt. Die Welt verändert sich, wird erst hellgrau und dann strahlend weiß.

Manchmal wird aus dem Schnee Matsch. Braun und nass spritzt er mir an die Beine. Überall gurgelt und schmatzt es, und danach wirkt die Umgebung grau und kahl. In der Stadt wird es dann manchmal ungemütlich. Aber die Natur ist auch schön, wenn sie kahl und triefend ist. Wenn Rauhreif glitzert, wenn es im Sonnenschein von den Zweigen der nackten Bäume tropft und im Wald nach Kälte riecht.

Ich liebe den Winter wirklich. Und keiner kann mir helfen. Diese Psychose wird mich mein Leben lang begleiten.  :snowman:
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Reisen heisst, zurückkehren wollen - das Geringe schätzend zurückzukehren. (Verfasser unbekannt)

tropical

Hallo Doro,

vielen Dank für diese persönlichen Einsichten. Ich mag auch die unterschiedlichen Stimmungen der vier Jahreszeiten. Der Übergang vom Herbst zum Winter ist immer wierder ein unvergleichliches Erlebnis und ein Naturschauspiel der besonderen Art. Du hast diese Ereignisse in wunderbar poetischer Weise hier dokumentiert.
Liebe Grüsse
Tropical

Doro77

Ja, der Übergang vom Herbst zum Winter ist auch eine schöne Zeit. Wenn so alles abgeerntet wird und der Farbenglanz des Herbstes langsam verblasst.

Gestern hab ich was seltsames gehört. Ein Kollege von mir ist zwar Deutscher, aber in Afrika (Sambia) aufgewachsen. Er erzählte, dass er natürlich als Kind nichts anderes kannte als das afrikanische Weihnachten - viel Hitze etc. Und dann war er als 8- oder 9-jähriger das erste Mal in Deutschland über Weihnachten. Und das alles - der Kamin, die Kälte draußen, die heißen Getränke und überhaupt die ganze Atmosphäre, das alles hätte ihn sehr berührt, und er sagte augenzwinkernd: Das erste Mal wurde mir klar - ja, das ist Weihnachten. Dafür ist Jesus gekommen, damit man hier am Kamin sitzen und heiße Schokolade trinken kann.  :icon_mrgreen: (Es ist eine religiöse Familie, also ist dieser Gedanke von so einem Kind gar nicht so weit hergeholt). Und danach hat er immer wieder Weihnachten in Sambia verbracht, aber dieses Weihnachten in Deutschland, das sei ihm doch näher gegangen als alle anderen.

Das finde ich eigenartig. Ich meine, er kannte es ja nicht anders als in Sambia. Ich dachte immer, man empfindet es so als Heimat, wie man aufwächst, und alles andere bleibt einem fremd. Ich kann es mir nur so erklären, dass eben die europäischen Wurzeln da waren, dass er eben neben den afrikanischen auch die deutschen Weihnachten vermittelt bekommen hat von seinen Eltern. Und so kannte er die zwar nur aus Erzählungen, aber sie waren doch irgendwie tief in ihm drin. Jetzt lebt er in Deutschland, und er muss sich natürlich an vieles gewöhnen und vermisst auch oft sein Sambia, aber Weihnachten genießt er sehr, sagt er.

Es gibt skurrile Sachen.  :icon_wink:
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Rastlos

#3
@Dorit

Wow, schöner hätte man die Stimmung im Winter wirklich nicht beschreiben können  :zustimm:
Ich schließe mich daher wortlos an  :icon_mrgreen:


P.S: Das einzige was jedoch noch bei uns fehlt sind die Polarlichter am Himmel. Das würde die ganze Sache perfekt machen  :icon_wink:
Wer rastet der rostet und es gibt einfach zu viel Schönes auf unserer Erde zu entdecken!
www.weltbummeln.de

Doro77

Au ja, das stimmt. Dafür muss man dann noch ein bisschen weiter Richtung Norden. Ich stelle es mir sehr schön vor, im Winter mal irgendwo in Skandinavien hoch oben zu sein. Es gibt hier sicher jemanden, der dort lebt (hab ich nicht neulich in einem Thread sowas gelesen  :icon_scratch:?)
Wie ist es denn so im Winter in Finnland oder Norwegen oder Schweden?
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Kurt

Hallo Dor0,

Poesie in Reinkultur, was will man mehr in einem Weltreise-Forum.... :icon_idea:
Viele Reisegrüsse sendet

Kurt

Allrounder

#6
Welch Friede wäre auf Erden, würde jeder Mensch die Welt mit Deinen Augen sehen.
Und ja . . . . . . . . Polarlichter würden den Winter perfekt ergänzen und auch den meist fehlenden Schnee :icon_cry:.

Ein Danke für Deine bereichernden und sinnlichen Geschichten Doro, welche immer wieder schön zu lesen sind.

Liebe Grüße in meine alte Heimat
Jens
Leben ist heute, das morgen ungewiss, drum nutze jeden Tag als wäre es Dein letzter !

Doro77

ZitatWelch Friede wäre auf Erden, würde jeder Mensch die Welt mit Deinen Augen sehen.

Also Jungs, nu kommt ma wieder aufn Teppich und erschreckt mich nich so. :icon_wink: Ich seh schon, ich muss euch mal 'n paar andere Storys von mir auftischen. Aber nur gegen Passwort und Altersangabe.  :icon_mrgreen:
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Rastlos

ZitatIch seh schon, ich muss euch mal 'n paar andere Storys von mir auftischen.
OH JA  :yau:
Hol die Leichen aus dem Keller  :icon_mrgreen:
Wer rastet der rostet und es gibt einfach zu viel Schönes auf unserer Erde zu entdecken!
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tropical

@ Jens
na ja, .....es müsen ja nicht gleich die Leichen sein.....

@ Doro
...aber neugierig hast Du mich schon gemacht!

Spass beiseite, bei so viel Poesie und Einfühlungsvermögen in die komplexesten Dinge des Lebens sind die Leichen sicher zu vernachlässigen...... :smilie-12:
Liebe Grüsse
Tropical